Es ist Zeit für eine kleine Bestandsaufnahme.
3 Jahre ist es jetzt her, dass Willi, mein "Killerrüde", das letzte Mal Menschen gebissen hat. 3 Jahre ist es her, dass ich in unserer dunkelsten Stunde ernsthaft darüber nachgedacht habe, aufzugeben. Das Thema Einschläferung war plötzlich sehr präsent. Denn seine aggressiven Attacken waren teilweise nicht mehr vorhersehbar. Er war mir zu einer nicht einkalkulierbaren Gefahr für andere mutiert. Von jetzt auf gleich konnte er explodieren und dabei andere Menschen verletzen.
Februar 2015 - die dunkelste Stunde
In dieser dunkelen Stunde suchte ich Rat bei meiner Tierärztin. Ich wollte eine neutrale Meinung hören. Ich wollte hören, was mir jemand zu sagen hat, der nicht aus meinem Trainerdunstkreis stammt und mir die 700. Empfehlung gibt, was ich noch alles trainieren könnte, um das Problem zu lösen. Denn ich war der Meinung, es gab nichts, was ich nicht schon getan hätte. Meine Tierärztin riet mir von einer Einschläferung dringend ab. Sie sagte, sie würde nur in sehr sehr seltenen Fällen Hunde einschläfern, und sie sähe gar nicht ein, in der Regel menschenverschuldete Probleme des Hundes mit seinem Tod zu lösen. Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, was wir noch tun könnten. Vielleicht gäbe es medizinische Optionen, die wir noch nicht ausgeschöpft hätten.
Ich fuhr wieder nach Hause und überschlief meine Verzweifelung dieser Schreckenswoche, in der wir zwei relativ heftige Beißvorfälle bei Menschen hatten und ich einen Hund an der Leine führte, der schon beim Anblick eines anderen Hundes auf 100 Meter Entfernung völlig hysterisch ausrastete – den ich gar nicht mehr erkannte! Ich war nervlich am Boden.
Am nächsten Tag traf ich die Entscheidung, dass ich noch einmal alles dransetzen würde, meinem Hund zu helfen. Und dass mein Hund so lange in meinem Leben bliebe, bis er irgendwann von sich aus die Augen schließen würde. Ich traf die Entscheidung, es durchzustehen, komme was wolle, das Beste draus zu machen und mit allen Einschränkungen, die das für mein Leben bedeuteten, in Frieden zu leben.
Nichts blieb unversucht
Es folgte eine Schmerztherapie, um herauszufinden, ob Willi mglw. irgendwo unentdeckt Schmerzen hätte. Ich begann eine Substitution mit Schilddrüsenhormonen, da seine Werte im unteren Normalbereich lagen und meine Tierärztin offen dafür war, auch diese Option auszuschöpfen. Denn Schilddrüsenunterfunktionen gehen nicht selten mit Verhaltensauffälligkeiten und Aggression einher. Ich ging mit meinen Hunden 3 Monate auf eine Wohnmobilreise, denn private Veränderungen machten dies möglich und nötig. Ich ließ mich von einer fähigen Verhaltenstierärztin beraten, und Willi bekam eine homöopathische Behandlung und allerlei andere heilpraktische Therapien verschrieben. Ich ließ sogar die Tierkommunikation nicht unversucht. Ich holte mir nochmals Unterstützung diverser Hundetrainerinnen und -trainer und wir schraubten weiter an Entspannungstechniken und Trainingswerkzeugen.
Und siehe da: Ganz langsam aber sicher ging es bergauf. Die medikamentösen Therapien brachten zwar keine Veränderungen, aber alle anderen Maßnahmen begannen zu greifen. Die Minimierung allen (Hintergrund-)Stresses brachte letztlich den Durchbruch, und Stress in dieser Zeit gab es reichlich – vor allem bei mir. Und ich begriff, dass ich meinen Stress und Druck ungefiltert an meine Hunde weitergegeben hatte.
2018
Heute, 3 Jahre später, ist alles ganz anders. Gerade vor zwei Tagen fiel mir eine Szene ein, die wir vor 2 Jahren erlebt hatten (und die wirklich mehr als peinlich ist): Ich war bei einer Trainingswoche in Vorarlberg, und Willi und ich mussten einen schmalen Weg durchlaufen, der ein Ausweichen zur Seite unmöglich machte. Für mich der totale Horror. Ich wusste genau, wenn uns ein Mensch entgegenkäme, dann gäbe das ein Desaster. Ich hatte unglaubliche, irrationale ANGST! Die
Szene endete damit, dass natürlich Menschen kamen und ich vor lauter Panik mit meinem Hund kopfüber im Gebüsch steckte und ich mantraartig irgendwelche Beruhigungsformeln murmelte, die vermutlich eher an meine Adresse gingen als an Willi. Meine Freundin, die Trainerin, tippte mir auf die Schulter und fragte, was zum Teufel ich da machte. Sie kriegte sich vor Lachen kaum ein. Ich hingegen war schweißnass gebadet und fix und fertig.
Würde ich diesen Weg heute gehen müssen – mir würde nicht einmal mehr in den Sinn kommen, dass dieser schwierig werden könnte – vorausgesetzt es käme uns kein Hund entgegen, dafür brauchen wir noch etwas mehr Raum.
Klassische Gegenkonditionierung - bei mir!
Was ich damals nicht mitbekommen habe und was sehr lange dauerte, bis ich es auch glauben konnte: Mein Hund war mittlerweile mental viel viel weiter als ich! Ich war diejenige, die in ihrer Angst gefangen war.
Die nächsten Jahre habe ich vor allem an mir gearbeitet, aus dieser erlernten Angst, es könnte etwas Schreckliches passieren, herauszukommen. Ich traute mich langsam wieder Gegenden zu besuchen, die nicht mehr nur Weitsicht boten, ich begann schmalere Wege zu gehen ohne mir Auszumalen, was nicht alles passieren konnte und die Distanz zu Menschen und Hunden zu verkleinern und mich dabei sicher zu fühlen. Ich durchlebte eine typische klassische Gegenkonditionierung und systematische Desensibilisierung bei mir selber :D
Heute passieren wir tatsächlich Menschen ohne stehenzubleiben, ohne vom Weg zu weichen. Willi meistert das schon lange perfekt! Man sieht deutlich, dass sich seine Emotion verändert hat. Er hat keine Angst mehr. Er ist komplett entspannt. Er kann mittlerweile in unserem Viertel an Kindern vorbeigehen, ohne den leisesten Impuls nach vorne zu zeigen. DAS IST UNFASSBAR!
Doch nicht nur er ist entspannt. Ich bin es heute endlich auch! Natürlich bemerke ich jeden Spaziergänger, und ich lasse meinen Hund auch nicht von der Leine, wenn ich Menschen sehe, weil ich ihm einfach nicht traue und das Risiko nicht eingehen mag, dass evtl. etwas passieren könnte. Aber wir sind Universen entfernt von der Szene, in der wir beide mit den Köpfen im Busch stecken und so tun, als wären wir nicht da :D
Mein Hund hat wieder regelmäßig Spaß beim Gassi. Er lacht ganz häufig. Er ist fröhlich und gut gelaunt. Letzte Woche hatten wir den ersten Freilauf mit anderen Hunden seit JAHREN! Ich war mir meiner Sache völlig sicher, und in der Tat hat Willi sich
meisterlich geschlagen. Er war einfach nur gut drauf.
Grenzen kennen
Ich weiß heute, wie sensibel mein Hund auf positiven und negativen Stress reagiert. Ich weiß, wie viel ich ihm zumuten kann und wo die Grenze ist. Er ist und bleibt ein reaktiver Hund mit gewissen Einschränkungen. Wenn seine Erregung in den Himmel schießt – und das kann schneller passieren als ein Porsche von null auf hundert beschleunigen kann –, besteht die Gefahr, dass er unangemessen reagiert. Ich weiß heute aber auch, wann und wie schnell die Erregung steigt. Oder was in welcher Situation ggf. passieren könnte, und wie ich vorbeugen kann. Solange ich bei ihm für Entspannung sorge, ist er ein wirklich cooler, freundlicher Hund, der sich über jeden Menschenkontakt freut.
Gemeinsam haben wir unsere Ängste besiegt. Willi etwas schneller als ich. Der Killerrüde ist Geschichte :) Ich hätte niemals gedacht, dass wir noch einmal da hinkommen, wo wir heute sind. Ich hatte mich darauf eingestellt, dass es schwierig bleiben wird, bis zum Schluss. Für mich ist ein kleines Wunder geschehen.
Und ich bin so happy, dass ich nicht aufgegeben habe. Für Willi und für meinen Seelenfrieden!