Ich schätze, 80% meiner Kundenhunde sind „gerettete“ Hunde aus dem Ausland, aus Rumänien, aus Bulgarien, Italien, Spanien… Von diesen 80% haben ca. 60-70% alle eines gemeinsam: Sie sind voller Angst, schreckhaft, sie haben Angst vor Menschen, oft vor Männern, vor Fahrrädern, vor Autos, vor Geräuschen aller Art, vor dem Gassigehen, vor anderen Hunden, einfach vor allem – davor, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt. Wiederum die Hälfte dieser Hunde hat gelernt, mit ihrer Angst offensiv umzugehen: Sie verbellen alles, sie gehen nach vorne, sie schnappen, sie beißen. Die andere Hälfte zieht den Schwanz ein, mag sich nicht herausbewegen und würde sich am Liebsten in Luft auflösen.
Wie geht man jetzt mit diesen Hunden um? Welche Fehler im Umgang lauern? Was kann man von ihnen erwarten? Was sollte man nicht erwarten?
Ein Thema, das noch sehr viel Aufklärung bedarf, wie ich leider immer wieder feststellen muss.
Die Geschichten, die ich höre, sind auf erschreckende Weise immer und immer wieder die gleichen:
Die frisch gebackenen Hundebesitzerinnen und -besitzer sind verständlicherweise sehr schnell überfordert, haben sie sich das Zusammenleben mit ihrem Tierschutzhund doch ganz anders vorgestellt. Viele sind tatsächlich Ersthundebesitzer, ohne Vorkenntnisse, aber mit vielen Erwartungen und Anforderungen, ohne es böse zu meinen:
Der Hund soll nach ein paar Tagen voll integriert und brav sein, er soll freudig stundenlang Gassi gehen, mit anderen Hunden und mit den eigenen Kindern spielen, bester Kumpel sein, eine enge Bindung zu Frauchen, Herrchen oder auch zum Kind haben, sportlich sein, alles mitmachen, nicht bellen, und natürlich schon mal gar nicht schnappen, beißen, an der Leine zerren oder andere Unarten an den Tag legen.
Sie gehen spätestens nach 2 Wochen Eingewöhnung motiviert und pflichtbewusst in eine Hundeschule, denn der Hund muss ja lernen, Sitz, Platz und vor allem Fuß zu machen und an lockerer Leine zu gehen.
Sie wollen unbedingt alles richtig machen.
Doch viele dieser Menschen geraten häufig in eine Hundeschule, die für den Hund zur Katastrophe wird. Die Trainerinnen und Trainer geben vor, dass der Hund nur in den ersten 20 Minuten des Spazierganges Pinkeln darf, Schnüffeln wird untersagt, Markieren ist verboten, er wird mit zu kurzer Leine und über Leinenrucke dazu gebracht, an lockerer Leine zu gehen – was in der Regel niemals (und schon gar nicht auf Dauer) klappt! –, es wird jede Kommunikation per Sprache untersagt, ausschließlich körpersprachlich kommuniziert, sprich: gemaßregelt über bedrohliche Gesten, Blocken, groß machen, frontal vor dem Hund aufbauen, anstarren etc.
Zu Hause darf der Hund nicht mehr aufs Sofa (obwohl Herrchen und Frauchen das eigentlich ganz schön fanden), er darf nicht mehr herumlaufen, weil dies als dominantes Verhalten und Kontrolle interpretiert wird, er muss im Körbchen liegen, bis ihm etwas anderes erlaubt wird.
Er darf kein Spielzeug zur freien Verfügung haben, er darf nicht begrüßt werden, damit er keinen Höhenflug bekommt, und noch eine ganze Reihe anderer vollkommen verblödeter Regeln werden gelehrt, die allen Beteiligten ein harmonisches Miteinander vollkommen unmöglich machen, teils gefährlich sind und das Leben mit Hund zum Stress ausarten lassen.
Ab und an erlaubt die Trainerin / der Trainier einen Keks zu füttern, denn „Wir arbeiten ja mit positiver Verstärkung“…
Das geht dann ein paar Wochen so weiter, und das ungute Gefühl der Menschen wächst. Der Hund will einfach nicht so, wie er soll, und – schlimmer noch – er beginnt, Verhaltensauffälligkeiten zu zeigen, die sich keiner wünscht: Das Bellen und Kläffen wird stärker, das Schnappen und Beißen auch, die Angst wird auch nicht weniger, und der Hund verweigert sich immer mehr und zieht sich zurück.
Wenn ich diese Geschichten höre (und das tue ich regelmäßig), könnte ich heulen!
Wenn die Menschen wüssten, was sie ihren Hunden antun – sie würden mitheulen.
Diese „armen“ Straßenhunde aus dem Ausland, die zwar häufig aus einem möglicherweise harten, aber immerhin freien Leben gefangen werden, in ein Canile mit Hunderten anderen Hunden auf engem Raum eingepfercht werden (wo viele dort bereits heftige Aversien gegenüber Artgenossen lernen), die dann im Massentransport nach Deutschland gekarrt und auf Pflegestellen oder Tierheime verteilt werden, um dann irgendwann bei der endgültigen Besitzerin / beim endgültigen Besitzer zu landen:
All diese Hunde haben in ihrem oft kurzen Leben schon so viele Traumata mitgemacht, dass eigentlich der normale Menschenverstand ausreichen müsste zu verstehen, wie tief die Angst häufig sitzt und wie schwerwiegende und manchmal irreparable Schäden sie angerichtet hat.
Aber an dieser Stelle ihrer Reise ist das Trauma eben häufig immer noch nicht vorbei, viele Hunde geraten vom Regen in die Traufe:
Es erwarten sie Verbote, Gängeleien, Strafen, Unterdrückung von hundlichem Verhalten wie Schnüffeln und Erkunden, statt das, was sie eigentlich dringend brauchen würden:
Zeit! Sicherheit! Geborgenheit! Ruhe! Geduld! Kein Stress! Keine Hundeschulen aus dem letzten Jahrhundert! Keine Anforderungen, Erwartungen, Befehle, kein Druck, kein Zwang! Ganz viel Freude und die Freisetzung von Glückshormonen!
Es ist an und für sich gar nicht schwierig, den Hunden ihren Start ins neue Leben einfacher zu machen. Im Folgenden findet ihr ein paar Tipps, mit denen ihr garantiert nicht falsch liegt:
- Lasst ihn ankommen! (Tierschutzhunde brauchen in der Regel bis zu 6 Monaten oder länger, bis sie wirklich angekommen sind. Hunde mit schweren Angstproblematiken brauchen häufig noch länger.)
- Verzichtet auf "Befehle" und "Kommandos", bis der Hund einen Zustand erreicht hat, in dem er lernen kann! (Und zwar mit Freude und ohne Strafe, weshalb wir auch von "Signalen" sprechen, immerhin sind wir nicht auf dem Kasernenplatz ;) )
- Verzichtet erst einmal auf Hundeschule! Es ist später immer noch genug Zeit dafür! Hunde lernen ein Leben lang, es ist nie zu spät, und es gibt keinen Grund zur Eile!
- Zwingt ihn zu nichts! Alles basiert auf Freiwilligkeit!
- Vergesst das lockere Leinegehen! Erstmal. Ein Hund, der in ständiger Angst lebt, kann sich nicht auf eine der schwierigsten Aufgaben konzentrieren, die wir ihm stellen! Je größer die Angst, desto mehr wird er zerren, in der Regel dorthin, wo er sich Sicherheit erhofft (Zuhause, Auto etc.). Erst, wenn er die Angst abgelegt hat und sein Gehirn bereit ist, zu lernen, könnt ihr mit sinnvollem Training beginnen!
- Ermutigt ihn zu schnüffeln, neugierig auf die Welt zu sein, seine Umgebung zu explorieren! Macht das zusammen, immer auf Freiwilligkeit basierend! Ein gesunder Hund ist neugierig!
- Zerrt ihn nicht durch die Gegend!
- Haltet genügend Abstand zu anderen Menschen und fremden Hunden! Lasst ihn selber entscheiden, wieviel Abstand er braucht. Häufig viel mehr, als wir glauben! Freut euch, wenn er freiwillig einen Bogen läuft! Unterstützt dies durch Futter und Lob, z. B. Denn wenn er steil auf Menschen oder Hunde draufzugiftet, freut ihr euch nicht - versprochen!
- Macht für die ersten Wochen kurze Gassigänge! Dreht immer die gleiche kurze Runde in einer wenig reizüberfluteten Umgebung, bis er jeden Grashalm kennt und gelernt hat, dass keine Gefahr droht!
- Führt Rituale im Tagesablauf ein, damit er weiß, was ihn erwartet!
- Nehmt ihn nicht mit in die laute, volle Stadt, geht dort Gassi, wo wenig los ist!
- Bindet ihn nicht vor dem Supermarkt an, um mal „kurz“ einkaufen zu gehen!
- Sichert den Hund über ein Sicherheitsgeschirr!
- Lasst ihn nicht ohne Leine laufen! Nutzt eine lange Schleppleine draußen, um den Stress einer kurzen Leine zu vermeiden und ihm die „Freiheit“ zu geben, selber die Distanz wählen zu können, die er braucht, um sich wohl zu fühlen!
- Vermeidet zusätzliche Stressoren! Hintergrundstressoren können ALLES sein, was den Cortisolspiegel in die Höhe treibt – was das ist, entscheidet der Hund. Hier einige wenige Beispiele: Lärm; Geräusche; Regen; Hitze; Krankheit; andere Hunde; zu lange, zu aufregende Gassigänge; Druck; Zwang; zu viel Besuch; hektische, distanzlose Kinder; zu viele Reize auf einmal; zu proteinhaltiges Futter; Schmerzen; Alleinebleiben, etc….
- Lernt euren Hund zu beobachten und einzuschätzen! Lernt seine Körpersprache! Was will er sagen? Wie geht es ihm?
- Drängt euch nicht auf, lasst ihn kommen!
- Schränkt ihn körperlich nicht ein! Gebt ihm Raum! Bedrängt ihn nicht!
- Lasst ihn zu Hause genügend lange Ruhen und Schlafen (ca. 18 Stunden am Tag bei einem erwachsenen Hund)! Das ist wichtig zur Regeneration und zum Lernen!
- Gebt ihm Geborgenheit und körperliche Nähe (WENN er sie einfordert) – auch auf dem Sofa!
- Seid freundlich! Redet mit netter, ruhiger Stimme mit dem Hund und schreit ihn nicht an!
- Macht keine hektischen Bewegungen oder frontale Bewegungen auf ihn zu! Das ängstigt! Verhaltet euch einladend, geht in die Hocke, nähert euch seitlich, starrt ihm nicht in die Augen!
- Verzeiht ihm seine Fehler, er weiß es (noch) nicht besser!
- Lasst ihm viele gute Dinge zuteil werden, z. B.: Leckerlis drinnen und draußen (wenn er sie nimmt), Spielzeug in der Wohnung frei zugänglich, Schutz, Körperkontakt, lobende Worte, Spaß, Motivation, Zuneigung, Empathie.
- Stört ihn nicht in seinem Körbchen! Akzeptiert seine Individualdistanz!
- Lasst ihn in Ruhe fressen! Nehmt ihm nicht sein Futter weg, um ihm irgendeinen Schwachsinn beizubringen! Ihr erntet damit nur Ressourcenverteidigung.
- Haltet Kinder von ihm fern bzw. lasst Kinder den Hund während des Schlafes oder während des Fressens nicht bedrängen oder stören! Reglementiert Spielzeiten! Lasst niemals eure Kinder allein mit dem Hund, weder zu Hause, noch vor allem draußen! Merkt euch: Der Hund ist nicht das Spielzeug der Kinder! Er hat eigene Vorlieben und Neigungen und wird diese ggf. und zu recht auch mit den Zähnen einfordern, wenn es freundlich nicht geht!
- Sorgt dafür, dass Besuch nicht in Massen auf den Hund trifft. Baut z. B. eine Box positiv auf, um dem Hund einen Rückzugsort zu schaffen, an dem er sich sicher fühlen kann. Wichtigste Regel: Niemand stört ihn dort!
- Gebt ihm Schutz und das Gefühl, sich auf euch verlassen zu können! Regelt schwierige Situationen für ihn! Er muss da NICHT selber durch!
- Werdet seine Vertrauensperson! Verdient euch sein Vertrauen! Wie? Siehe oben! ;)
Und vor allem:
- Macht euch, verdammt nochmal, keine Gedanken über Dominanz und Kontrolle! Dieser Erklärungsansatz stammt aus dem letzten Jahrhundert und ist lange überholt! Und jede Trainerin und jeder Trainer sollte das wissen!
Natürlich gibt es noch viele weitere Dinge, die ihr beachten und anwenden könnt, um dem Hund die Anfangszeit so einfach wie möglich zu machen. Wenn ihr aber schon mal die oben genannten Punkte verinnerlicht, seid ihr auf dem richtigen Weg. Dazu noch eine Portion Empathie, Einfühlungsvermögen für die Bedürfnisse des Hundes, viel Verständnis und Geduld, und ihr erfüllt die besten Voraussetzungen, eine auf Vertrauen basierende, freundschaftliche, freudvolle und solide Grundlage zwischen euch und dem neuen Familienmitglied zu schaffen.